Tränen in den Augen der Finanzminister

Der gebürtige Baseler Mathis Wackernagel entwickelte nach dem Ingenieurstudium an der ETH Zürich im Rahmen seiner Doktorarbeit an der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) gemeinsam mit dem Ökologen William Rees das Konzept des Ökologischen Fußabdrucks. Wackernagel leitet das internationale Nachhaltigkeitsinstitut Global Footprint Network, dessen Ziel es ist, ökologische Aspekte so in ökonomische Entscheidungsprozesse einzubeziehen, dass die Wirtschaft innerhalb des Budgets der Natur gedeihen kann. Global Footprint Networks jährlicher Erdüberlastungstag erreicht weltweit mehr als vier Milliarden Medienimpressionen. Mathis Wackernagels Arbeit zog zahlreiche Auszeichnungen und Preise nach sich.

Herr Wackernagel, mit Ihrem Global Footprint Network ermitteln Sie jährlich den Earth Overshoot Day, also den Tag, an dem der menschliche Hunger nach ökologischen Ressourcen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen überschreitet. Worum geht es Ihnen bei der Kampagne?

Wackernagel: Der Earth Overshoot Day fiel dieses Jahr auf den 29. Juli. Das heißt, es fehlen 155 Tage bis Jahresende. Wir wollen mit der Kampagne eine Konversation anstacheln und Lösungsvorschläge aufzeigen. Der Overshoot ist nämlich das zweitgrößte Risiko für die Menschheit. Das größte ist, ihn zu verkennen und sich nicht vorzubereiten. In der Vergangenheit hat der Raubbau an der Natur die Wirtschaft stimuliert und wer am schnellsten raubte, erzielte die größten Wachstumsraten. Inzwischen ist die Ressourcensicherheit viel wichtiger, was viele immer noch unterschätzen. Viele denken, dass das Problem so groß ist, dass sie allein nichts daran ändern können. Sie warten auf den globalen Konsens. Es wäre wunderbar, wenn der käme, aber wenn wir uns, unsere Unternehmen und unsere Staaten für die Zukunft absichern wollen, müssen wir auch ohne diesen Konsens etwas tun. Dabei sollte es nicht das Ziel sein, nur so viele Ressourcen zu verbrauchen, wie die Erde regenerieren kann, sondern wesentlich weniger als das – es gibt schließlich auf unserem Planeten noch andere wilde Tierarten neben uns Menschen.

Sie haben die „100 Days of Possibility“ zwischen dem Earth Overshoot Day 2021 und der UN-Klimakonferenz COP26 ausgerufen und Möglichkeiten vorgestellt, wie man den Erdüberlastungstag verschieben kann. Welche Idee fand bisher die größte Resonanz?

Wackernagel: Es gibt keine „Silver Bullet“, wie es im Englischen heißt, also keine einzelne magische Lösung, durch die plötzlich alles besser werden würde. Es gibt jedoch viel Wirkungsvolles, das auch wirtschaftlich von Vorteil wäre. Wir wissen zum Beispiel, dass wir 90 Tage gewinnen könnten, wenn wir den CO2-Ausstoß weltweit halbieren würden. Das ist möglich. Es gibt viele kosteneffektive Alternativen zur fossilen Energie. Die stellt zwar nicht das ganze Problem dar, aber einen sehr, sehr großen Teil. Noch viel wesentlicher ist es, dass diese Möglichkeiten Investitionen in uns selbst sind, denn sie erlauben uns in der vorhersehbaren Zukunft funktionstüchtig zu bleiben. Wenn der Klimawandel nicht außer Kontrolle geraten soll, gibt es keine Alternative zu einem kompletten Abschied von der fossilen Energie innerhalb weniger Jahrzehnte, vielleicht sogar innerhalb der nächsten 20 Jahre. Die Frage ist: Was hält uns zurück? Warum nutzen wir unsere Fähigkeit vorauszudenken nicht? Warum wird etwa im Wettbewerbsindex des Weltwirtschaftsforums, in dem es darum geht, welche Länder langfristig ökonomisch erfolgreich sein können, die Ressourcensicherheit nicht mal erwähnt? Das ist ein blinder Fleck in unseren sozialen und wirtschaftlichen Theorien. In Deutschland heißt es immer: Können wir es uns leisten, Vorreiter zu sein? Das ist die falsche Frage. Die richtige lautet: Können wir es uns leisten, uns nicht auf die voraussehbare  Zukunft vorzubereiten?   

Sie berechnen auch die Overshoot Days einzelner Länder. Wenn die gesamte Menschheit so leben würde wie die Indonesier, wäre der Earth Overshoot Day am 18. Dezember. Schlusslicht sind Katar und Luxemburg, deren Overshoot Days am 8. bzw. am 15. Februar sind. Woran liegt das?    

Wackernagel: Der Overshoot Day misst, wie viel in einem Land konsumiert wird im Vergleich zur Biokapazität, die es pro Person in der Welt gibt. Dort, wo die Einkommen höher sind, konsumieren die Menschen mehr. Der Defizit Tag vergleicht den Konsum mit der lokalen Biokapazität. Damit ist Katar noch exponierter: Es gibt wenig Süßwasser, es ist heiß, das Land ist klein, sehr zersiedelt und unproduktiv, fossile Energie ist billig. Trotz einiger Nachhaltigkeitsanstrengungen ist der Konsum relativ hoch, aber ohne lokal ökologisch viel bieten zu können. Luxemburg ist das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Europa. Das Land ist durch seinen Konsum enorm ressourcenabhängig. Wobei höhere Einkommen nicht per se schlecht sind. Wenn das Geld gut eingesetzt wird, kann wertvollere Infrastruktur gebaut werden, zum Beispiel mit Häusern, die wenig oder keine Energie brauchen oder gar mehr Energie produzieren als sie verbrauchen. 72 Prozent der Menschen weltweit leben hingegen in Ländern mit ökologischem Defizit und einem im globalen Vergleich unterdurchschnittlichen Einkommen. Die können sich aus der Ressourcenunsicherheit nicht rauskaufen, mit fatalen Folgen. Der Wettbewerb um biologische Ressourcen wird mit Sicherheit zunehmen. Da stellt sich die Frage, wie schwierig es für eine global operierende Wirtschaft wird, in einer Welt effektiv zu sein, in der 72 Prozent der Weltbevölkerung nicht ressourcensicher sind und ob sich unter diesen Bedingungen eine globale Ökonomie überhaupt aufrechterhalten lässt. 

Luxemburg hat immerhin den Vorteil, relativ klein zu sein. Was aber ist mit Schwergewichten wie Indien oder China, die immer reicher werden und dem Westen sagen: „Ihr habt in den vergangenen Jahren durch euer Wirtschaftsstreben die Umwelt zerstört. Warum sollten wir uns in unserem Aufschwung jetzt zurückhalten?“ Wie gehen wir mit diesen Ländern um?  

Wackernagel: Wir können nicht über sie bestimmen, höchstens versuchen, sie über freundschaftliche Beziehungen zu beeinflussen. Selbstbestimmung ist ein wesentlicher Treiber für Identität. Das hat sich auch wieder ganz traurig in Afghanistan gezeigt.

Deutschland kann vor allem Einfluss auf Deutschland nehmen. Denn wenn der Konsum in Indien und China steigt, wird der Druck auf Deutschland noch größer, und damit auch die Notwendigkeit für Deutschland selbst ressourcensicher zu werden. Zu zeigen, dass es uns ernst ist, hat vielleicht auch einen viel größeren Effekt als China und Indien von einem Ressourcenverzicht überzeugen zu wollen, ohne selbst das ernst zu nehmen und selbst das umzusetzen. Im Übrigen würde ich die beiden Länder nicht in einen Topf werfen. Indien agiert viel fatalistischer, China hingegen ist für mich ein erstaunliches Beispiel für den Umgang mit Ressourcen.

Inwiefern?

Wackernagel: In Chinas ökonomischen Theorien spielt der Umgang mit Ressourcen eine viel größere Rolle als bei uns, deshalb hat sich das Land auch den Ressourcenzugang im Rest der Welt gesichert. Eine Praktikantin von mir, die in China zur Schule ging, hat mir mal von ihrem Geografie-Unterricht erzählt. Da sagen die Lehrer: „Kinder, hört her! Wir müssen vorsichtig umgehen mit Ressourcen. Lasst uns zuerst die Ressourcen von anderswo verbrauchen, bevor wir unsere anzapfen.“ Ich hätte gerne, dass das überall so gelehrt wird, weil man dann Ressourcen genauso ernst nehmen würde wie Geld. Weil wir dann unsere Ressourcen nicht so einfach weggeben würden, sondern sehen, wie wertvoll sie sind. Aber erlauben Sie mir einen kurzen Exkurs zu einem Wort, das Sie vorhin im Zusammenhang mit Indien und China gesagt haben.

Nur zu.

Wackernagel: Eigentlich sind es zwei Wörter, ein Paar: Arm und Reich. Wann ist man arm: Wenn man arm an Ressourcen ist, an Ausbildung, Kultur, Biodiversität oder arm an Geld, an Einkommen? Durch das Bruttosozialprodukt haben wir uns sehr stark aufs Einkommen fokussiert und vergessen, ob das auch Reichtum schafft. Reichtum besteht nicht nur aus Goldmünzen, sondern auch aus der Möglichkeit, Einkommen aufrechtzuerhalten. Wenn wir 100 Euro Einkommen erwirtschaften, indem wir 200 Euro an Reichtum liquidieren, weil wir die Natur abbauen oder Schulden aufnehmen, werden wir netto ärmer. Ein Land, das immer mehr Einkommen generiert, indem es seinen Reichtum liquidiert, stärkt sich nicht. Wie wesentlich Ressourcen sind, wurde in der Vergangenheit erkannt, aber seit dem 2. Weltkrieg sind Ressourcen und die materielle Realität aus den Sozialwissenschaften fast ganz verschwunden. Das führt zu großen Missverständnissen, und hat uns auch in ein Schneeballsystem hereinkatapultiert. Wir bezahlen die Gegenwart mit der Liquidierung der Zukunft. Am Anfang eines Schneeballsystems funktioniert das System umso besser, je mehr man es beschleunigt. Es stiegen die ökonomischen Möglichkeiten, je schneller man die Natur ausbeutete. Mittlerweile sind wir im Endspiel des Schneeballsystems. Da kehrt sich die Dynamik. Alles ist fragiler, und dann Einkommen zu produzieren, das von viel Reichtumsliquidation abhängt wird höchst riskant. Physikalisch ausgedrückt: Als wir den CO2-Gehalt in der Luft von 300 parts per million auf 310 ppm angehoben haben, hatte das keine großen Konsequenzen. Das war eine billige Schuld. Wir wissen aber heute, dass wir gerade mal eine 66-prozentige Chance haben, das Zwei-Grad-Ziel langfristig zu erreichen, wenn die Konzentration bei maximal 450 ppm liegt. Vergangenes Jahr waren wir bei 502 ppm CO2e, also CO2 equivalent. Das heißt: Von 502 jetzt noch auf 510 ppm zu gehen, ist viel riskanter und ungemütlicher als von 302 auf 310.       

Die jungen Generationen scheinen beim Konsum ein stärkeres Umweltbewusstsein zu haben als die älteren. Wie lässt sich das übertragen? 

Wackernagel: Wir brauchen ein stärkeres Wirtschaftsbewusstsein, kein stärkeres Umweltbewusstsein. Ein Verständnis dafür, dass jede Wirtschaft Ressourcensicherheit braucht. Solange sich nur die Umweltminister mit dem Klimawandel auseinandersetzen, zeigen wir, dass wir das Problem nicht ernstnehmen. Ich will Tränen in den Augen der Finanzminister sehen und Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Ich will, dass sie dasselbe Herzklopfen bekommen wie wenn sie hören, dass die Arbeitslosigkeit steigt, denn das Risiko des Overshoots für die Wirtschaft ist noch viel höher. Es muss nicht jeder Einzelne bei jedem Schritt überlegen, was der Schritt für die Umwelt bedeutet, da wird man ja verrückt. Aber es fehlt uns ein kulturelles Verständnis dafür, dass wir biologische Wesen sind. Das zeigt sich, wenn wir rezyklierbare Produkte wie Bananen in den Mülleimer werfen statt auf den Komposthaufen. Stattdessen unterhalten wir uns über mechanische Fragen. Darüber, ob Elektroautos die Lösung sind. Wir brauchen die Elektrifizierung, keine Frage. Aber das ist nicht unser größtes Problem. Unser größtes Problem ist, dass die menschliche Nachfrage höher ist als das, was die Erde erneuern kann. Es geht um die Biologie.   

Gibt es Länder, die das erkannt haben und mit positivem Beispiel vorangehen? Sie haben vorhin ja bereits vom großen Ressourcenbewusstsein Chinas berichtet. Ist China ein Vorbild?  

Wackernagel: Das Bewusstsein in China ist groß. Gleichzeitig ist der Konsum dort so stark gestiegen, dass das Land weit über seinen Kapazitäten lebt. Südamerika ist der Kontinent mit den größten Biokapazitätsreserven, aber die sind nicht gut gemanagt. Dort ist die Entwicklungstheorie („el derecho al desarrollo“ also das Recht auf Entwicklung) selbstzerstörend, sie liquidieren ihre Reserven im Namen von Fortschritt. In Schottland sind sich Regierungskreise bewusst, dass es mit dem Nordseeöl, von dem das Land stark abhängig ist, langfristig nicht so weitergeht wie bisher. Die Schotten denken im Vergleich zu anderen erstaunlich weit. In meinem Heimatland Schweiz gab es vor ein paar Jahren eine parlamentarische Anfrage an den Bundesrat zur Ressourcenknappheit. Essenziell hat die Administration in ihrem langen Report geantwortet: Wir haben vier Monate Pflichtreserven für Erdöl. Das war für mich unterhaltend. Und ein bisschen traurig, denn es gibt viel mehr Monate als 4 im 21. Jahrhundert. Dann gibt es die deutsche Energiewende. Wenn ich in die Schweiz fliege, kurven die Flieger am Schluss noch im Anflug über Deutschland. Da sehe ich viel mehr PV-Anlagen als in der Schweiz, da hat Deutschland schneller gehandelt – wenn auch immer noch viel zu zaghaft.

So richtige Vorbilder haben wir jetzt von Ihnen nicht gehört.

Wackernagel: Es ist so: Ich kann besser sein als mein Nachbar und ertrinke trotzdem, einfach nur ein bisschen langsamer. Wir spielen in der Welt ein komisches Spiel und niemand nennt den Namen. Ich verrat ihn Ihnen: Es heißt „Losing last“. Wir könnten aus den besten Dingen unterschiedlicher Länder ein wunderbares Land zusammenknüpfen. Die Fahrradpolitik Hollands etwa ist beeindruckend, auch aus wirtschaftlicher Sicht. Die gesellschaftlichen Kosten, einen Menschen einen Kilometer zu bewegen, sind auf dem Fahrrad zehnmal kleiner als im öffentlichen oder privaten Verkehr mit fossiler Energie. Hollands Nahrungsmittelpolitik dagegen ist unverträglich mit Nachhaltigkeit. Die Niederlande sagen, sie seien das drittgrößte Exportland für Landwirtschaftsprodukte. Das stimmt vielleicht finanziell. Die biophysikalische Rechnung aber zeigt aber, dass sie nur die Hälfte ihres eigenen Konsums produzieren können, die Differenz importieren sie. 

Das heißt, es braucht eine Zusammenarbeit, bei der die Länder sich die Best Practices der anderen abschauen. Wie bewerten Sie den Green Deal der EU?

Wackernagel: Er ist ein guter Schritt. Aber geht er schnell genug? Sich Ziele zu setzen ist wesentlich, sie umzusetzen noch wesentlicher. Es mag vielleicht etwas grotesk klingen, aber zu sagen, wir bauen jetzt die Wirtschaft um, ist in unserer Situation so, als würden wir ankündigen, jetzt damit aufzuhören, uns die Arme abzuhacken. Leider ist in der Diskussion der moralische Narrativ noch immer sehr präsent. Der zerstört ein wenig das Verständnis für die Bedeutsamkeit. Es begeistert mich, dass zumindest die Europäische Kommission die wirtschaftliche Notwendigkeit betont. Die Industrie dankt es ihr aber nicht. Eigentlich müsste jedes Unternehmen in Europa „Hurra!“ rufen und die Kommission für ihre Bemühungen umarmen. Denn diejenigen, die sich am langsamsten auf die neue Welt vorbereiten, denen wird es am schlechtesten gehen.

Wie gelingt es dann, die Industrie davon zu überzeugen, Ziele als notwendig anzusehen und sie zum Anpacken zu bewegen?

Wackernagel: Es braucht Handlungsanweisungen und kulturelles Verständnis. Alle, die mit dem Bau neuer Gebäude zu tun haben, sollten energieeffiziente Gebäude wollen. Nicht, weil sie es als Pflicht ansehen – dann finden sie Wege, die Standards zu umgehen. Sondern weil sie erkennen, dass es um Wertsteigerung geht – dann werden sie fantasievoll. Ziele, die wir als Indoktrination und Last empfinden, setzen wir seltener um als die, deren Notwendigkeit wir akzeptieren.  

Wie sieht aus Ihrer Sicht die optimale Stadt der Zukunft aus?

Wackernagel: Ich kann sie mir grob wie das innere Paris vorstellen. Relativ kompakt gebaut, aber nicht zu kompakt – zu hohe Hochhäuser verbrauchen zu viel Energie. Mit spazierfreundlichen Boulevards, die eher Parks sind als Transitstrecken und auf denen die Sonne durchkommt. Die Stadt ist so gebaut, dass es kein Industriegebiet am einen und ein Wohngebiet am anderen Ende gibt, sondern überall ein bisschen etwas von allem geschieht. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohner ökologisch effizient sein kann, weil dann die Wege zu lang werden. Entscheidend ist aber bei allen Ansätzen, dass sie wirtschaftlich sind. Denn je wirtschaftlicher sie sind, desto schneller können sie repliziert werden.